Vom Kassenschlager zum Ladenhüter: Das Modell der westlichen Demokratie in der Defensive

Die politischen Großereignisse der letzten Monate bezeugen eindrucksvoll, was Anhänger liberaler Demokratiesysteme lange Zeit für unmöglich hielten: Die Anziehungskraft des westlichen Demokratiediskurses gerät an ihre Grenzen. Auch in westlichen Ländern sind reaktionäre Protestbewegungen, Populismus und autokratische Tendenzen zurück auf der Bühne des politischen Alltages: Von der Wahl Donald Trumps in den USA über die Referenden in Großbritannien und der Türkei bis hin zu national-konservativen Antidemokraten in Osteuropa hat die Erfolgsstory des westlichen Systems einen faden Beigeschmack bekommen.

Und mehr noch: Während auch hierzulande Begriffe in die Montagsreden zurückkehren, die lange Zeit nicht salonfähig waren, erfreut sich die globale Konkurrenz steigender Beliebtheit. Ökonomische Schwergewichte wie China und Russland haben in den letzten Jahren erfolgreich ihr wirtschaftliches Potenzial genutzt, um für ihr Verständnis guter politischer Systeme zu werben. Gleichzeitig führt die anhaltende Globalisierung zu einer Mischung aus Tradition und technologischem Fortschritt, der die Entwicklung neuer Demokratieformen begünstigt (Youngs 2015: 141). Zu guter Letzt werfen die oben angeführten Erosionserscheinungen in westlichen Demokratien die Frage auf, ob die „historische Erfolgsstory“ (Derichs 1995: 228) klassisch-liberaler Demokratien nicht an ihr Ende geraten ist.

Doch was macht „westliche“ Demokratien überhaupt aus? Richard Youngs schlägt mit seinem Konzept des „Liberalism-Plus“ vor, nicht-westliche Demokratien zu untersuchen ohne dabei einen expliziten Demokratiebegriff zu verwenden. Zunächst klingt dies kontraintuitiv. Wie soll man etwas untersuchen, das man vorher nicht definiert? Doch es ist der durchaus überzeugende Versuch, das Problem vorheriger Analysen zu vermeiden, „Demokratie“ lediglich anhand bestimmter institutioneller Ausformungen auf der Makroebene – quasi mit einer Westliche-Demokratie-Schablone – zu untersuchen. Stattdessen richtet Youngs den Fokus auf Werte und lokale Praktiken. Youngs identifiziert dazu drei Kernelemente liberaler demokratischer Werte: Toleranz, Partizipation und Accountability (Youngs 2015: 145). Diese gelte es dann jeweils auf den fünf Achsen von 1. Individualität und Kommunitarismus, 2. Wirtschaftliche Gerechtigkeit, 3. Kommunitarismusformen und Minderheitenrechte, 4. Interessenvertretung und 5. Justizalternativen zu verorten (ibid. 146ff.). Es soll mit diesem Analyseansatz gezeigt werden, dass nicht-westliche Gesellschaften durchaus ebenso liberale demokratische Werte vertreten können wie westliche Gesellschaften. Diese äußern sich jedoch durch die Verbindung mit lokalen Normen und Praktiken durchaus auch in andern – nicht-westlichen – institutionellen Ausformungen. Es bietet sich mit dieser Herangehensweise die Chance, Alternativen zum westlichen liberalen Demokratiemodell aufzuzeigen und es ist ein erster Schritt, die Verwobenheit von Demokratie und bspw. spezifischen Wirtschaftsmodellen hinterfragbar zu machen.

Eine Dichotomie zwischen „westlichen“ und „nicht-westlichen“ Gesellschaften wird von Youngs jedoch nicht in Frage gestellt. Eine alternative Herangehensweise dazu, die genau diese Unterscheidung nicht voraussetzt, zeigt das V-Dem Projekt auf. Hier geht man ebenfalls davon aus, dass Demokratie komplex und vielschichtig ist und bisherige Analysemethoden nicht in der Lage sind, dies ausreichend abzubilden (Coppedge et al 2017: 2). Statt jedoch zu kapitulieren und keine Demokratiedefinition zu verwenden, oder sich methodisch auf eine Demokratiedefinition zurückzuziehen, hat das V-Dem Project es sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche Regime systematisch auf verschiedenste Demokratiekonzepte hin zu untersuchen. Das Ziel ist es dementsprechend jedes Regime in jedem Konzept zu verorten und damit ein jeweils mehrdimensionales, umfassendes Bild der betreffenden Demokratievariante in diesem Regime zu zeigen. Dass Bestandteile der unterschiedlichen Konzepte sich teilweise widersprechen ist dabei nicht problematisch, sondern konzeptuell bedingt (Coppedge et al 2017: 24). Die zu untersuchenden Konzepte sind 1. Wahldemokratie, 2. Liberale Demokratie, 3. Mehrheitsdemokratie, 4. Konsensdemokratie, 5. Partizipatorische Demokratie, 6. Deliberative Demokratie, 7. Egalitäre Demokratie (Coppedge et al 2017: 25). Es wird so weder eine Homogenität der „westlichen“ Demokratien angenommen, noch wird vorausgesetzt, dass die Variationen sich in zwei großen Gruppen der „westlichen“ und „nicht-westlichen“ Regime clustern werden. Darüber hinaus werden die Daten jährlich neu erhoben, sodass auch Veränderungen innerhalb der bestehenden Regime sichtbar werden können.

Für moderne und überzeugende Demokratieforschung ist es an der Zeit, Analysekategorien zu überdenken und die überhebliche Position aufzugeben, das bekannte Modell der als „westlich“ definierten Demokratien sei ein Vorzeigemodell, dem andere Staaten nur nachzueifern bräuchten. Im Gegenteil: In den letzten Jahren sind die bisherigen Topseller der westlichen Welt in den letzten Regalreihen mächtig angestaubt. Dabei verdeutlichen die anfänglich skizzierten Entwicklungen zweierlei: Zum einen haben die bisherigen Vorzeigemodelle deutlich an Anziehungskraft verloren. Und zum anderen könnten gerade diese Demokratien, so sie sich weiterhin einer kritischen Selbsthinterfragung verwehren, an den Rand des eigenen Zusammenbruches gelangen.

 

 

 

Literatur:

Coppedge, Michael/Gerring, John/Lindberg, Staffan I./Skaaning, Sven-Erik/Teorell, Jan (2017): V-Dem Comparisons and Contrasts with Other Measurement Projects. University of Gotheburg Working Paper 2017 (14).

Youngs, Richard (2015): Exploring „Non-Western Democracy“. In: Journal of Democracy, 26 (4), S. 140-154.

Derichs, Claudia & Mols, Manfred (1995): Das Ende der Geschichte oder ein Zusammenstoß der Zivilisationen? In: Zeitrschrift für Politik 42 (3), S. 225-249.

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